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Die Erkenntnis aus der Dunkelheit - und die Geburt des Verlangens

„Wie der Vorzug des Lichts aus der Finsternis.“ – Kohelet 2:13


Manche Wahrheiten treten nicht direkt hervor.
Sie sagen nicht: „Hey- Hier bin ich.“
Sie warten – und wenn sie sich zeigen, dann nicht durch das, was sie sind, sondern durch das, was sie entbehren lassen.

So wie Wasser: Solange es da ist, achten wir kaum darauf. Doch wenn Durst uns berührt und kein Tropfen zur Verfügung steht, offenbart sich seine wahre Kostbarkeit.
Oder wie in der Freundschaft: In der Selbstverständlichkeit des Alltags bleibt ihre Tiefe oft verborgen. Erst wenn der andere nicht mehr da ist, spüren wir, wie sehr er unser Leben getragen hat.
Das Wesen vieler Dinge zeigt sich nicht im Überfluss, sondern im Mangel.
Nicht im Offensichtlichen, sondern im Entzug.

Und gerade dadurch führen sie uns tiefer zu ihrem Ursprung.“
So ist es mit Licht und Dunkel, mit Nähe und Trennung, mit Liebe und Entfremdung.
Ihr wahres Wesen wird oft erst im Gegensatz erfahrbar.

Die Kabbala nennt dies:
„Der Vorteil des Lichts – aus der Finsternis.“

Das Verlangen – Ursubstanz und unverfügbarer Raum
Diese Bewegung – vom Mangel zur Erkenntnis – ist keine logische, sondern eine seelische Bewegung.
Sie geschieht nicht im Denken, sondern im Innersten:
in jenem unverfügbaren Raum, in dem Verlangen geboren wurde.
Das Verlangen ist – so deutet es Rabash – nicht etwas, das erst später im Menschen entsteht.
Es ist die ursprüngliche Substanz der Schöpfung selbst.
Schon vor der Geburt trägt der Mensch es in sich, weil er durch dieses Verlangen überhaupt erst geformt wird.

Die Geburt bringt nicht das Verlangen hervor – vielmehr tritt es mit der Geburt in eine Form, in eine Beziehung: zu Welt, Eltern, Nahrung, Atem.
Ich kann es nicht beweisen – doch in der Stille, im Beobachten des Lebens, scheint sich genau das zu bestätigen: dass das Verlangen nicht aus uns selbst kommt, sondern uns trägt.
So wie Rabash es beschreibt, erkenne ich darin nicht nur eine Lehre, sondern eine Erfahrung, die sich im Innersten bestätigt.

Der Mensch ist daher nicht Ursprung des Verlangens – er ist seine Frucht.
Das Gesetz der Gegensätzlichkeit

Rabash schreibt:
„Es ist bekannt, dass sich nichts in seiner wahren Form offenbart, sondern nur aus seinem Gegenteil heraus.“


Die Sterne erscheinen, weil die Dunkelheit sie trägt. Ruhe erhält Bedeutung, wenn Unruhe spürbar war.
Und Nähe wird umso tiefer geliebt, wenn man zuvor durch die Entfernung gegangen ist.
Diese Gegensätzlichkeit ist kein Widerspruch, sondern eine Bewegung – vom Erleben zum Verstehen, vom Verlust zur Reife, von der Trennung zur Rückkehr.
Spiegel und Beziehung


Rabash schreibt:
„Alles verweist auf etwas anderes… Man kann nichts mit absoluter Klarheit erkennen, wenn es nichts gibt, was dem entgegengesetzt wäre.“


Wenn ich diesen Satz lese, spüre ich darin einen Hinweis, den ich auch in meinen eigenen Beobachtungen wiederfinde. Erkenntnis erscheint selten isoliert – sie entfaltet sich im Verhältnis. Das Bittere deutet auf das Süße, die Kälte macht die Wärme fühlbar. Und gerade das, was fehlt, öffnet in uns jenen Raum, in dem Verlangen wächst.
Vielleicht ist das genau der Sinn seiner Worte: Dass wir etwas erst erkennen, wenn es im Spiegel des Anderen, des Gegenteils, sichtbar wird. Nähe erhält Tiefe durch die Erinnerung an das Alleinsein. Aufrichtigkeit wird erst erfahrbar, wenn die Lüge gespürt wurde.

Die Lüge als Spiegel
Rabashs Worte über Gegensätzlichkeit lassen sich auch auf die Lüge beziehen. Denn in Beziehungen begegnet sie uns: nicht immer als absichtliche Täuschung, sondern oft als Entfernung. Ein Raum, der niemandem gehört – ein Niemandsland, in dem das Verstehen verstummt.
Vielleicht ist die Lüge gar kein Verrat, sondern ein Symptom dieses Raumes. Ein Zustand, in dem keiner mehr ganz da ist: der eine sagt nicht mehr, was in ihm lebt; der andere hört nicht mehr, was zwischen den Worten schwingt.

Und doch entsteht dann ein Bild – der andere sei der Lügner. Doch vielleicht ist dieses Bild weniger ein Urteil über ihn, als ein Spiegel auf mich. Denn wie könnte es überhaupt entstehen, wenn es nicht aus meiner eigenen verschleierten Lüge genährt wäre?
Die Zuschreibung, die ich dem Anderen gebe, verhüllt, was in mir verborgen liegt. So zeigt sich die eigentliche Täuschung nicht in seinen Worten – sondern in meinem Blick. Und vielleicht ist das genau das Schwerste: zu erkennen, dass das, was ich im Anderen verurteile, der Schatten meines eigenen Ungesagten ist.

Das Zittern – Ruf zur Selbsterkenntnis
Das Herz spürt, wenn Wahrheit fehlt.
Es beginnt zu zittern.
Nicht, um den anderen anzuklagen, sondern um mich zu rufen:

„Mensch, erkenne dich selbst.“

Wenn ich diesem Zittern ausweiche, mache ich den Anderen zum Schuldigen.
Wenn ich ihm lausche, erkenne ich: Die Lüge ist nicht bloß Täuschung, sondern eine Aufforderung.
Eine Schwelle zur Selbsterkenntnis.
Sie zeigt mir, wo mein eigenes Ungesagtes lebt – mein verschleierter Schmerz, mein verborgenes Verlangen.

Die heilende Bewegung
Wenn ich still bleibe, öffnet sich in diesem Raum keine Anklage, sondern eine Möglichkeit.
Die Trennung wird nicht zur Mauer, sondern zur Brücke.
Das Verlangen, das in ihr verborgen liegt, zeigt sich – nicht als Vorwurf, sondern als leise Bewegung zurück zum Ursprung.

So enthüllt sich: Die Lüge ist nicht Schuld, sondern Symptom.
Ein Hinweis. Eine Schwelle.
Zur Rückkehr.
Zur Nähe.
Zur Wahrheit, die im Atem ruht.
Denn der Atem kennt keine Lüge.
Er trägt, was wahr ist – unverstellt, unverfügbar, gegenwärtig.
Wenn er frei fließt, zeigt sich das Verborgene.
Nicht im Außen, sondern im Innersten.

Schluss
Vielleicht ist die größte Nähe nicht die, die man festhält –
sondern die, der man Raum gibt.
Vielleicht beginnt Wahrheit dort,
wo der Atem still wird
und nichts mehr gesagt werden muss.

Und vielleicht führt Selbsterkenntnis nicht in die Einsamkeit, sondern in eine neue Art des Verstehens.
Denn wer den Schleier der eigenen Lüge durchschaut,
beginnt vorsichtig zu ahnen, dass auch der Andere kein Täter war,
sondern ein Mitgehender in derselben Bewegung.

Es war ein langer Weg –
Die nicht aus Zufällen gepflastert, sondern aus Ursachen und Wirkungen geformt.
Eine Vorbereitung, die – wie Rabash es beschreibt – den Menschen durch Gegensätze führt:
durch Mangel und Fülle, durch Schmerz und Freude, durch Trennung und Nähe.
In seinen Worten klingt an, dass nichts grundlos geschieht.

Und in meinem eigenen Erleben finde ich eine leise Bestätigung dafür:
Auch das, was schwer war, trug den Keim einer Reifung in sich.
Das Leid öffnete den Raum für Mitgefühl,
die Freude schenkte Vertrauen in die Fülle,
und beide Kräfte zusammen webten die Bewegung,
die den Menschen langsam zu sich selbst zurückführte.

So erhält auch das Verlangen seine Bedeutung: Es bleibt nicht bloß ein Drang nach Erfüllung,
sondern gewinnt Tiefe, indem es durch Mangel geformt wird,
durch Entbehrung wachgerufen,
durch Gegensätze geklärt.

Erst in dieser Spannung entfaltet es seine Würde –
als Ursubstanz der Schöpfung, die den Menschen trägt,
bis sie in Erkenntnis und Nähe zurückgeführt wird.
So erscheint mir das Leben nicht als Abfolge zufälliger Ereignisse, sondern – im Sinne dessen, was Rabash andeutet – als ein verborgenes Gesetz, in dem Gegensätze einander bedingen und der Mensch durch sie geformt wird.

Um jetzt, in diesem Augenblick, anzukommen:
bei sich – und zugleich im Ursprung.

Und vielleicht klingt dann auch ein alter Satz in neuem Licht:

„Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.“


Nicht als Forderung.
Nicht als Moral.
Sondern als Erinnerung – dass Selbsterkenntnis und Mitgefühl zwei Seiten derselben Bewegung sind.
Wie Einatmen und Ausatmen.
Geboren im selben Atem.