Die Betrachtung von äußerer
und innerer Zeit
Teil II
Es gibt zwei Arten von Zeit.
Die eine ist sichtbar, messbar – sie zeigt sich auf der Uhr. Sie hilft uns, Abläufe zu koordinieren, den Tag zu strukturieren, pünktlich zu sein. Sie ist notwendig, um miteinander zu funktionieren, um Technik, Beruf und Verlässlichkeit möglich zu machen.
Nennen wir sie einfach die äußere Zeit.
Und dann gibt es noch eine andere.
Sie ist leise, nicht messbar – aber sie bestimmt, wie wir etwas erleben.
Ob ein Moment ewig dauert oder flüchtig vergeht.
Ob eine Berührung tief wirkt – oder kaum ankommt.
Diese Zeit hat keine Zeiger. Sie schwingt in Beziehung, in Erinnerung, im Atem.
Sie ist das, was wir empfinden, wenn wir ganz bei uns sind – oder ganz bei einem anderen.
Nennen wir sie die innere Zeit.
Beide Zeiten gehören zu unserem Leben.
Doch manchmal gerät etwas aus dem Gleichgewicht.
Wenn wir zu lange nur im Takt der äußeren Zeit leben – und dabei den Kontakt zur inneren verlieren –
dann wird der Körper unruhig, der Atem flach, das Herz zwar regelmäßig, aber nicht mehr in seinem eigenen Rhythmus.
An diesem Punkt beginnt die Atmung eine wichtige Rolle zu spielen.
Denn sie verbindet beides – das Innere und das Äußere.
Und vielleicht ist es genau das, was der Atem uns zeigt:
Dass wir jederzeit zurückfinden können – in einen Rhythmus, der uns nicht antreibt, sondern trägt.
Äußere Zeit – Orientierung, Ordnung, Funktion
Die chronologische Zeit – also Stunde, Minute, Sekunde – ist ein vereinbarter, messbarer Rahmen, der uns hilft, den Alltag zu strukturieren:
Termine, Arbeit, Verkehrsverbindungen, digitale Kommunikation – alles folgt dieser präzisen Uhrzeit.
*Sie basiert auf äußeren Abläufen wie dem Sonnenstand, der Erdrotation oder – auf höchster Genauigkeit – den Schwingungen von Cäsium-Atomen in Atomuhren.
Diese Zeit ist notwendig, um gemeinsam planbar und funktional zu leben.
Sie ermöglicht Verlässlichkeit – und bildet die Grundlage für unsere technische und wirtschaftliche Welt.
Innere Zeit – Erleben, Beziehung, Tiefe
Gleichzeitig gibt es eine andere Zeit.
Eine, die nicht messbar ist – sondern spürbar.
Diese innere Zeit formt sich aus:
• Nähe und Berührung
• Atem und Aufmerksamkeit
• Rhythmus und Beziehung
• Erinnerung und Erwartung
Manche Minuten fühlen sich ewig an, andere Stunden vergehen wie ein Wimpernschlag. Diese Zeit lebt im Inneren, nicht auf der Uhr.
Sie hat Tiefe – nicht Taktung.
Diese gelebte Zeit ist empfindlich. Sie reagiert auf Druck, auf Beschleunigung, auf das ständige Müssen.
Und wenn sie über lange Zeit nicht beachtet wird, verliert sie an Lebendigkeit – sie zieht sich zurück.
Was geschieht, wenn die äußere Zeit das innere Zeitgefühl überholt?
Wenn wir über längere Strecken hinweg nur an der äußeren Uhr orientiert leben, ohne Kontakt zum eigenen Rhythmus, dann verschiebt sich unsere Wahrnehmung:
• Wir fühlen uns gehetzt, obwohl objektiv genug Zeit wäre.
• Pausen werden übergangen, weil sie im Kalender keinen Platz finden.
• Der Atem wird flach.
• Das Herz bleibt zwar im Takt, aber der Mensch verliert seinen Rhythmus.
Die Reaktion des vegetativen Nervensystems
Das vegetative Nervensystem reguliert all das, was nicht willentlich gesteuert wird: Atmung, Herzschlag, Verdauung, Schlaf. Es besteht aus zwei großen Polen:
• Sympathikus: Aktivierung, Leistung, Aufmerksamkeit
• Parasympathikus: Regeneration, Ruhe, Heilung, Verdauung
Wenn wir dauerhaft im Takt der äußeren Zeit leben – ohne Rückbindung an das eigene Empfinden –
dann bleibt der Sympathikus ständig aktiv.
Das führt zu einem Zustand, der sich wie latente Alarmbereitschaft anfühlt.
Der Parasympathikus, der für Regeneration sorgt, wird nicht mehr genügend angesprochen.
Und dann geschieht etwas Paradoxes:
Der Teil, der für Entspannung zuständig ist, wird nicht schwach – er wird starr.
So wie ein Muskel, der nicht gebraucht wird, verhärtet statt sich zu öffnen, verliert auch das Nervensystem seine Beweglichkeit.
Es reagiert nicht mehr fein – sondern nur noch in Extremen:
Entweder Übererregung – oder Erschöpfung.
Der Atem als Mittler zwischen beiden Zeiten
Hier beginnt die stille Weisheit der Atmung – und vielleicht auch das Herzstück der Anemosophie:
Der Atem ist das einzige vegetativ gesteuerte System, das wir willentlich beeinflussen können.
Wenn wir achtsam und aufmerksam atmen, senden wir dem Nervensystem ein Zeichen von Sicherheit.
Und sobald Sicherheit empfunden wird, kommt Bewegung zurück – auch in das, was erstarrt war.
Das vegetative System beginnt wieder zu schwingen:
zwischen Spannung und Entspannung,
zwischen Tun und Sein,
zwischen äußerer Uhrzeit –
und innerem Zeitempfinden.
Und vielleicht ist es genau dieser Rhythmus – zwischen äußerer Ordnung und innerer Empfindung –,
den wir wieder hören lernen dürfen.
Nicht um schneller zu funktionieren, sondern um wieder berührt zu werden – von dem, was uns trägt,
wenn alles andere zu laut geworden ist.
Der Atem weiß diesen Weg.
Er wartet nicht –
aber er empfängt.
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* Anmerkung und Erklärung aus dem digitalen Wörterbuch
Was ist ein Cäsium-Atom – und was macht es so besonders?
Cäsium ist ein chemisches Element, es steht im Periodensystem unter dem Symbol Cs. Es ist ein sehr weiches, silberfarbenes Metall, das zur Gruppe der Alkalimetalle gehört. Doch für die Zeitmessung ist nicht seine chemische Beschaffenheit wichtig – sondern das, was in seinem Atomkern und seinen Elektronenhüllen passiert.
Ein Atom besteht aus einem Kern (Protonen und Neutronen) und einer Hülle aus Elektronen, die den Kern umkreisen – vergleichbar mit Planeten, die um eine Sonne kreisen.
Diese Elektronen können auf bestimmten „Bahnen“ oder Energiezuständen sein. Wenn sie zwischen diesen Zuständen hin- und herspringen, geschieht das mit ganz bestimmter Energie – und genau das ist messbar.
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Und was hat das mit Zeit zu tun?
Ein ganz bestimmter Übergang in einem Cäsium-133-Atom (das ist ein spezieller Isotopentyp von Cäsium) wurde international als der Standard für eine Sekunde festgelegt.
Warum gerade Cäsium-133?
Weil es extrem stabil ist. Die Frequenz (also die Anzahl der Schwingungen pro Sekunde), mit der das Elektron zwischen zwei bestimmten Energiezuständen hin und her springt, ändert sich so gut wie gar nicht – selbst über viele Jahre hinweg. Das macht es ideal für präzise Zeitmessung.
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Die Definition der Sekunde (seit 1967)
Die offizielle Definition lautet:
Eine Sekunde ist die Dauer von 9.192.631.770 Schwingungen der Strahlung, die einem bestimmten Übergang zwischen zwei Energiezuständen des Cäsium-133-Atoms entspricht.
Diese Schwingung ist wie ein innerer Takt – ein natürlicher Rhythmus, der durch nichts von außen gestört wird.
Atomuhren zählen also exakt diese Schwingungen – und sobald 9.192.631.770 davon gemessen wurden, ist genau eine Sekunde vergangen.
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Warum ist das wichtig?
Weil alle unsere modernen Systeme – vom GPS, über das Internet bis hin zur Luft- und Raumfahrt – auf diese exakte Zeitmessung angewiesen sind.
Selbst kleine Fehler würden auf Dauer zu riesigen Abweichungen führen.