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Die Möglichkeit, sich in dem Werk selbst zu begegnen?


„Das Wahre Wesen der Schöpfung liegt nicht in ihrer sichtbaren Gestalt, 

sondern in der Stille, die ihr vorausgeht. Das Licht zieht sich zurück, damit wir es suchen. Der Schöpfer verbirgt sich, damit wir Ihn erkennen.“   

Anemosophie- die göttliche Ordnung, die sich in der Weisheit der Atmung offenbart.Der Mensch als Mitschöpfer

Jeder Mensch ist dazu bestimmt, sein Menschsein so zu entwickeln, dass er die höhere Ordnung hinter der Schöpfung erkennt. In der kabbalistischen Lehre von Baal HaSulam wird dies als der Prozess der Angleichung an den Schöpfer beschrieben. Doch was bedeutet das genau? Wie kann der Mensch die Vernunft hinter der Schöpfung begreifen, wenn das Licht sich zurückgezogen hat und wir in einer Welt leben, die oft voller Widersprüche und Dunkelheit erscheint?

Ein tiefer Gedanke aus dem Artikel „Die handelnde Vernunft“ von Baal HaSulam besagt, dass der Mensch mit dem Schöpfer verschmilzt, wenn er Seine Handlungen versteht. So wie wir die Intelligenz eines Künstlers in seinem Werk erkennen, so offenbart sich die Vernunft des Schöpfers in den Ordnungen der Welt. Wenn ein Mensch beginnt, sich mit den Prinzipien der Schöpfung auseinanderzusetzen, entfaltet sich in ihm eine höhere Wahrnehmung – er erkennt die „Namen des Schöpfers“, das heißt, seine verborgene Präsenz in allem, was existiert. Durch diese Erkenntnis wird er nicht nur ein Betrachter, sondern ein bewusster Teil des Schöpfungsprozesses.

Doch diese Begegnung mit dem Werk ist keine passive Erfahrung. Der Mensch ist nicht nur ein Beobachter der Realität, sondern ein Mitschöpfer – er formt durch seine Gedanken, Handlungen und Absichten seine eigene Wahrnehmung der Welt. Die Möglichkeit, sich im Werk selbst zu begegnen, ist für mein Verständnis, eine Aufforderung, nicht nur das äußerliche Geschehen zu betrachten, sondern sich der tieferen Mechanismen bewusst zu werden, die das Leben lenken.

Die Frage ist: Wie können wir unser eigenes Schaffen, unser Handeln und unsere innere Entwicklung als Mittel nutzen, um die Vernunft hinter allem zu erfassen? Was bedeutet es, sich selbst im Werk zu begegnen – in den eigenen Gedanken, Taten, in der Art, wie wir Beziehungen führen und unsere Wirklichkeit gestalten?

Diese Fragen führen uns zu einer neuen Perspektive: Die Schöpfung ist nicht etwas, das äußerlich von uns getrennt existiert. Sie ist ein Spiegel, der uns einlädt, unser eigenes Wesen zu erkennen. Die Welt ist nicht nur ein Ort, an dem wir existieren, sondern ein lebendiger Ausdruck der tiefsten Prinzipien, die auch in uns wirken.

Die Möglichkeit, sich im Werk selbst zu begegnen, liegt also in der achtsamen Wahrnehmung. Wenn wir lernen, die Gesetze hinter den Ereignissen unseres Lebens zu entschlüsseln, beginnt sich eine neue Realität zu offenbaren. Der Mensch erkennt sich als Teil eines höheren Prozesses, als ein Wesen, das nicht nur von der Schöpfung beeinflusst wird, sondern selbst die Kraft hat, zu erschaffen und zu formen.
In diesem Sinne ist jeder Moment eine Gelegenheit zur Annäherung an das höhere Prinzip. Das Studium der kabbalistischen Weisheit hilft uns, die verborgene Ordnung zu entschlüsseln und unseren Platz in diesem großen Werk zu finden.

Denn letztendlich ist der wahre Schöpfungsakt nicht das bloße Handeln in der Welt, sondern das klare Erkennen der Vernunft hinter ihr. Und in diesem Erkennen vollzieht sich die wahre Verschmelzung – die Begegnung mit dem Schöpfer in unserem eigenen Werk.
Doch diese Erkenntnis kommt nicht aus einem Gefühl des persönlichen Besitzes oder der Kontrolle. Vielmehr ist sie das Ergebnis eines tieferen Verständnisses: Es ist durch mich geschehen. Nicht ich bin der Ursprung, sondern ich durfte ein Kanal für etwas sein, das weit über mich hinausgeht. In dieser Haltung liegt Demut, aber auch Verantwortung – denn wenn das Licht durch uns wirkt, tragen wir die Aufgabe, es weiterzugeben.

Es gibt Momente, in denen ich mich frage, ob mein Tun wirklich aus mir selbst entspringt oder ob ich nur handle, weil es von mir erwartet wird. Ist es möglich, mich in dem, was ich tue, wirklich zu erkennen? Nicht nur als jemand, der eine Aufgabe erfüllt, sondern als jemand, der in seinem Werk eine Spur von sich selbst hinterlässt? Ich beginne zu verstehen, dass mein Dasein nie einfach nur ist – es ist immer auf etwas gerichtet, immer eingebettet in eine Struktur des Erlebens, die sich mir nicht nur als außenstehende Welt zeigt, sondern als eine, die ich mitgestalte.

Meine Gedanken, meine Entscheidungen, selbst die alltäglichen Handlungen formen mich, so wie ich sie forme. Wenn ich achtsam in meinem Tun stehe, dann ist mein Werk nicht bloß ein Produkt, sondern ein Ort der Begegnung mit mir selbst. Doch wenn ich mich in mechanischem Handeln verliere, wenn ich mich selbst nicht in dem sehe, was ich tue, dann wird das Tun zur Flucht – eine Bewegung, die mich nicht zu mir hinführt, sondern ich mich von mir entferne. Doch wenn ich die Kreativität des Schöpfers anerkenne, fließt durch mich nicht nur Erkenntnis, sondern auch jene kreative Kraft, die zur Selbsterkenntnis führt. Mein Tun wird nicht länger nur ein Vollzug, sondern ein lebendiges Geschehen, durch das ich mich selbst und das ursprüngliche Schöpfungsmoment neu erfahre.

Vielleicht ist das die eigentliche Frage: Ist mein Tun ein Ausdruck meines Wesens – oder ein Mittel, es zu verbergen? Wenn ich mich meinem Werk zuwende, kann ich darin etwas von mir erkennen? Oder bleibt es eine leere Form, die mir fremd ist? Ich merke, dass es nicht nur darauf ankommt, was ich tue, sondern wie ich darin gegenwärtig bin. Die Möglichkeit, mir in meinem Tun zu begegnen, ist nicht bloß eine Frage des Inhalts, sondern der Haltung. Bin ich bereit, mein Tun als einen Spiegel zu sehen? Oder erwarte ich von der Welt, dass sie mir zeigt, wer ich bin, während ich selbst den Blick verweigere?

Diese Gedanken sind keine abschließenden Antworten, sondern Fragen, die mich begleiten. Vielleicht ist mein Dasein genau das – nicht ein fertiger Zustand, sondern die Bereitschaft, sich selbst immer wieder im eigenen Tun zu erkennen.

Die Einschränkung und das Sich-Zeigen der Schöpfung

Das Tun des Menschen ist nicht bloß ein Vollzug des Wirkens, nicht bloß ein Mittel zur Herstellung von Etwas, das außerhalb seiner selbst liegt. Es ist immer auch eine Bewegung in sich selbst hinein, eine Weise, in der der Mensch sich begegnet – oder sich vor sich selbst verbirgt. Achtsames Tun ist jenes, das nicht allein nach einem Ziel greift, sondern das sich als ein Geschehen im Menschen selbst ereignet. Wer eine Tätigkeit aufmerksam vollzieht, erfährt sich in ihr, erkennt sein eigenes Wesen im Werk, das aus ihm hervorgeht. Das Handeln wird nicht nur ein Vollzug des Machens, sondern ein Spiegel des Seins. Es ist ein Sich-Hineinstellen in das Werk, ein Dasein im Tun selbst, ohne dabei das Tun nur als Mittel für einen äußeren Zweck zu entstellen.

Doch was geschieht, wenn diese Aufmerksamkeit fehlt? Wenn das Tun nicht mehr Ort der Begegnung ist, sondern zur bloßen Funktion herabsinkt? Unbedachtes oder nur einfaches Tun ist das Sich-Verlieren in der Handlung, ohne dass der Handelnde sich in ihr erkennt. Es ist das Wirken, das nicht aus der Mitte des Seins geschieht, sondern sich seiner selbst entzieht und ins Außen drängt. Ein solches Tun sucht nicht die Wahrheit des Selbst im Werk, sondern flieht vor ihr – indem es sich in Leistung, in Anerkennung, in Überlegenheit oder Kontrolle über andere verstrickt.

Unbedachtes Tun ist damit immer auch eine Form der Projektion: Der Mensch, der sich selbst nicht erkennt, sucht sich im Anderen. Er überträgt seine eigenen Unklarheiten, seine ungelösten Spannungen auf das Außen, statt sich dem Eigenen zu stellen. Der Lehrer, der an seinen Schülern scheitert, sieht nicht sich selbst. Der Führende, der sich über andere erhebt, flieht vor seiner eigenen Unsicherheit. Der Schaffende, der sein Werk nur als etwas Äußeres betrachtet, verweigert sich der Möglichkeit, in ihm sich selbst zu begegnen.

Doch das Werk ist nicht bloß ein Gegenstand des Erschaffens. Es ist ein Zeigen des Ursprungs, ein Geschehen der Offenbarung. Der Schöpfer entzieht sich nicht dem Werk, sondern bringt sich in ihm zur Erscheinung. Doch er tritt nicht in voller Präsenz hervor – er zieht sich zurück, damit das Werk für sich sprechen kann. Die Einschränkung wird zur Bedingung des Erscheinens. So wie der Schöpfer sein Werk nicht unmittelbar aufzwingt, sondern ihm Raum gibt, sich selbst zu zeigen, so ist es auch beim Menschen: Nur indem er sich zurücknimmt, kann sein Tun zum Ort der Begegnung werden.

Denn das Wesen der Schöpfung liegt nicht darin, dass sie sich dem Blick aufdrängt, sondern dass sie sich erkennen lässt – wenn der Blick sich öffnet. Der Schöpfer stellt sein Werk nicht als reine Macht in die Welt, sondern als Einladung zum Verstehen. So ist es auch mit allem, was wir schaffen: Es verlangt nicht nach bloßer Betrachtung, sondern nach Durchdringung. Nicht nach bloßem Konsum, sondern nach einer Annäherung an das, was in ihm lebt.

Die Wahl steht dem Menschen immer offen: Wird das Werk zum Ort der Begegnung – oder zur Flucht vor sich selbst? Wird die Schöpfung als Einladung zur Erkenntnis verstanden – oder als bloßes Gegebenes, das übersehen wird?

Die Einschränkung, die den Raum für das Werk schafft, ist nicht Entzug, sondern Möglichkeit. So wie das Licht sich zurückzieht, um die Welt hervorzubringen, so zieht sich der Schöpfer aus dem Sichtbaren zurück, damit wir ihn suchen. Und so zieht sich auch der Schaffende in sein Werk zurück – nicht um sich zu verbergen, sondern um sich in einer anderen Weise zu zeigen.

„Anemosophie – die Weisheit des Atems – ist die lebendige Erkenntnis, dass wir nicht nur existieren, sondern dass das Leben durch uns geschieht. In ihr liegt der Schlüssel zur tiefsten Begegnung mit uns selbst und dem Schöpfer.“