Was der Mensch im Licht nicht mehr sieht
Einleitung
Im Studium mit der Kabbala und der Arbeit mit Menschen – und im stillen Beobachten der Zeit – begegnet mir immer wieder eine Bewegung, die wie ein unsichtbarer Strom unter der Oberfläche wirkt:
Ein tiefes Verlangen nach dem Hellen, dem Guten, dem Richtigen.
Ein Streben nach Licht – nach Ordnung, nach Klarheit.
Doch je mehr sich dieses Streben verdichtet, desto deutlicher wird auch etwas anderes spürbar.
Etwas Unausgesprochenes.
Etwas, das kaum benannt wird – und dennoch wirkt.
Es ist nicht das Gegenteil des Lichts, sondern jener Teil,
den der Mensch im Licht nicht mehr wahrnimmt.
Und vielleicht ist es genau dieser Schatten, in dem sich etwas Wahres verbirgt.
Etwas, das kein Ziel braucht,
sondern nur ein aufmerksames Dasein.
Die folgenden Gedanken sind aus den Zeilen der Kabbala
und aus den Worten Meister Eckharts entstanden –
nicht als Antwort,
nicht als Lösung,
sondern aus einer ehrlichen Berührung mit dem, was oft übersehen wird.
Meiser Eckhart, Kabbala und das Verlangen nach Ganzheit
Der Mensch strebt.
Er will gut sein, lichtvoll, rein.
Er will das Dunkle vermeiden, das Fehlerhafte überwinden, das Niedrige verlassen.
Und genau in diesem Streben – entsteht das, wovor er sich fürchtet: das Gegenteilige.
Denn dort, wo er das „Gute“ sucht, schafft er ungewollt den Schatten.
Nicht als Strafe, sondern als Folge:
Das Licht, das angestrebt wird, verlangt nach einem Dunkel, das es glänzen lässt.
Das Reine, das ersehnt wird, braucht das Unreine, das es bestätigen soll.
Und so erschafft das Verlangen zum Guten die Spaltung, die er vermeiden wollte.
Er sieht nur eine Seite – und ruft damit die andere hervor.
Er nennt das Dunkel „Gegner“ –
und übersieht, dass er selbst es hervorgebracht hat.
Die Unterscheidung, die trennt – und die Einheit, die still bleibt
Meister Eckhart lehrt nicht, dass der Mensch das Dunkle suchen soll.
Aber er lehrt: dass der Mensch aufhören muss, es zu vermeiden –
wenn er das Ganze erkennen will.
Nicht Gleichgültigkeit – sondern ein stilles Verstehen, dass Licht und Schatten nur zwei Seiten desselben Antlitzes sind.
Erst wenn der Mensch das Dunkle nicht mehr bekämpft
und das Helle nicht mehr festhält, beginnt in ihm die Einsicht, dass alles Verstehen vom Durchdringen der Gegensätze getragen wird. Und genau dort, wo das Streben zur Ruhe kommt, beginnt das Empfangen.
Nicht der Wille ist heilig – sondern die Übereinstimmung
Vielleicht ist es das, was der Mensch nicht erkennt:
Dass sein Wille zum Guten – so edel er erscheinen mag – aus Trennung geboren ist.
Denn der Wunsch, gut zu sein,
ist oft unbedacht der Versuch, etwas auszuschließen:
das Fehlerhafte, das Unreine, das Abweichende.
Doch genau darin liegt die Spaltung, die alles Heile trennt.
Wahre Übereinstimmung aber entsteht nicht durch Streben, nicht durch Leistung, nicht durch fromme Absicht – sondern durch das Verstehen der Gegensätze.
Erst wenn das Dunkle nicht mehr ausgeschlossen wird, beginnt das Licht, sich zu zeigen – nicht als Gegensatz, sondern als Ursprung.
Und vielleicht beginnt der Schöpfer dort zu wirken, wo der Mensch aufgehört hat, ihn zu suchen.
„Der Schöpfer ist gut und Gutes tuend.“
Aber was heißt das?
Ist es eine Beschreibung – oder eine Einladung?
Ist es eine Eigenschaft – oder eine Richtung?
Wenn wir meinen, der Schöpfer sei gut, und alles, was geschieht, müsse gut sein, dann beginnen wir zu urteilen.
Dann beginnen wir zu trennen:
Was nicht gut ist, gehört nicht zu Gott.
Was dunkel ist, muss überwunden werden.
Was uns irritiert, kann nicht göttlich sein.
Aber vielleicht war diese Aussage nie als moralisches Urteil gemeint – sondern als Spiegel des Ursprungs.
„Gut und Gutes tuend“ bedeutet:
Die Absicht der Schöpfung ist reines Geben.
Ohne Eigennutz.
Ohne Erwartung.
Ohne Gegenüber.
Und genau darum musste eine Realität erschaffen werden,
in der dieses Geben spürbar wird:
in einem Gegenüber, das empfängt.
In einem Mangel, der das Licht ersehnt.
In einer Seele, die aus Dunkelheit heraus den Ursprung erinnert.
Sie will empfangen.
Und dieses Empfangen trennt – weil es für sich empfängt.
Das ist der Zustand, aus dem sich alles Gegenteilige ergibt:
Getrenntheit, Angst, Ablehnung, Schatten.
Aber in der Tiefe dieses Mangels
liegt der erste Funke der Umkehr.
Denn sobald das Verlangen versteht,
dass es nicht für sich allein erschaffen wurde,
sondern als Spiegel – beginnt es, sich zu verwandeln.
Und die Seele – die vorher nur empfangen wollte –
beginnt zu fragen:
Wie kann ich geben?
Wie kann ich ähnlich werden?
Wie kann ich nicht nur Licht empfangen,
sondern selbst Licht tragen?
Und genau dort beginnt das Göttliche, sich im Menschlichen zu erinnern.
Der Schatten ist nicht das Ende des Lichts – sondern seine Aufforderung.
Die Seele, so sagt die Kabbala,
wurde geschaffen als ein Gefäß,
um das Licht zu empfangen.
Aber erst wenn dieses Gefäß
nicht mehr für sich allein empfangen will – sondern um zu geben –, entsteht wahre Ähnlichkeit.
Dann ist der Schöpfer nicht mehr außerhalb – sondern lebendig im Innersten.
Nicht gesucht – sondern gefunden.
Nicht behauptet – sondern erinnert.
Und vielleicht…
…beginnt Gott dort,
wo der Mensch aufhört, sich selbst zu verteidigen.
Wo das Gute keine Richtung mehr braucht.
Wo das Dunkle nicht mehr ausgeschlossen wird.
Wo das Verlangen nicht mehr fragt:
Was bringt es mir?
Sondern still geworden ist –
und sagt:
„Hier bin ich.“
Und- „Hier bin ich“ ist kein Satz –
sondern eine stille Gegenwart,
in der sich das Göttliche erinnert.