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Vom Begriff zur Berührung

„Der Atem kennt keine Behauptung –
er empfängt, was gegeben ist,
und gibt, was reifen durfte.
So entsteht Weisheit – nicht durch Wissen,
sondern durch die Ordnung,
die aus dem stillen Lauschen geboren wird.“
Anemosophie – die Weisheit in der Ordnung des Atems


Einleitung

Ich glaube, dass es in jedem Menschen einen leisen Ort gibt, an dem Worte nicht gemacht werden, sondern wachsen – wie aus einem inneren Ursprung, der älter ist als jede Sprache. In meiner Arbeit mit Menschen – und in meinem eigenen Werden – habe ich diesen Ort immer wieder gespürt.
Zuerst als Ahnung. Dann als Raum. Und schließlich als etwas, das sich nicht lehren lässt, sondern nur erfahren werden kann:
als ein stiller Zwischenraum, in dem sich etwas zeigt, das nicht aus mir kommt – und doch in mir klingt.
Ich habe versucht, diesen Raum mit vielen Begriffen zu fassen – aber keiner hat ihn wirklich gehalten.
Bis ich begann, beim Atmen auf das zu lauschen, was zwischen den Begriffen geschieht. Und der Atem – still, einfach, tief – wurde zum Kompass.

Anfangs als Technik.
Dann als Geste des Empfangens.
Und schließlich als leiser Lehrer.

Daraus ist Anemosophie gewachsen: eine stille Philosophie des Atmens, in der Weisheit nicht aus Wissen kommt, sondern aus der Ordnung, die sich im Rhythmus des Lebens offenbart.

Der folgende Text ist Teil dieser Bewegung.
Er versucht nicht, etwas zu erklären – sondern etwas zu berühren.
Ein Versuch, dem Begriff „Bewusstsein“ wieder seine stille Tiefe zu schenken.
Ihn zu entkleiden von dem, was ihn überfrachtet hat – und ihn neu erscheinen zu lassen:

Als unverfügbarer Raum.

Als Ursprung.
Als Erinnerung daran, dass Leben nicht gemacht wird – sondern geschieht.
Der unverfügbare Raum – Eine behutsame Wandlung des Begriffs „Bewusstsein“

In meinem Leben – und in der Begleitung von Menschen – bin ich vielen Worten begegnet. Manche tragen ein Leben lang, manche verlieren ihren Klang, wenn sie zu oft gesprochen wurden. Und manche – wie das Wort Bewusstsein – fordern geradezu dazu auf, sie neu zu verstehen.
Denn dieser Begriff ist längst zu einer Projektionsfläche geworden, die vieles verspricht – aber oft leer bleibt.

Man spricht vom „bewussteren Leben“, vom „Erweitern des Bewusstseins“, vom „Bewusstseinstraining“ – als ließe es sich besitzen, formen, verbessern.
Doch mit der Zeit hat sich mein Verstehen gewandelt.

Maurice Merleau-Ponty
„Das Bewusstsein ist nicht das, was denkt, sondern das, was lebt.“
Für Merleau-Ponty ist Bewusstsein kein Denken über die Welt,
sondern Teilhabe am Körper, an der Wahrnehmung, an der Bewegung des Lebendigen.


So begann ich, das Wort zu entkleiden.
Nicht aus Ablehnung – sondern aus Ehrfurcht.
Denn was ich als Bewusstsein empfunden habe, war nie ein Zustand.
Kein Besitz.
Keine Errungenschaft.

Es war eher wie ein stiller Raum – ein Resonanzfeld, das nicht mir gehört, sondern mich trägt.
Ein Raum, der nicht „gemacht“ werden kann, sondern sich öffnet, wenn ich aufhöre, ihn festhalten zu wollen.

Martin Heidegger
„Das Sein ist das, was sich im Dasein lichtet.“
Was ich Raum nenne, bezeichnet Heidegger als Lichtung – ein Ort, an dem sich etwas zeigt, nicht weil wir es machen, sondern weil es sich ereignet.

Er nennt ihn: unverfügbar.
Etwas, das geschieht – aber nicht verfügbar ist.
Nicht durch Denken, nicht durch Wollen.
Vielleicht beginnt alles dort, wo der Atem beginnt.

Oder genauer: in jenem Moment, als der Schöpfer dem geformten Körper seinen Odem einhauchte - und zwischen dem göttlichen Ausatmen und dem ersten Einatmen des Menschen
etwas entstand, das sich nicht benennen lässt:
die lebendige Seele.

In dieser Schnittstelle – zwischen Geben und Empfangen – liegt für mich der Ursprung dessen, was viele Bewusstsein nennen, und was ich als göttliche Spur erfahre.

Es ist kein Objekt.
Es ist Beziehung.
Ein Ort, in dem etwas geschieht – ohne dass ich es hervorbringe.
Diesen Wandel möchte ich teilen.
Nicht als Lehre.
Nicht als Methode.
Sondern als Einladung:
still zu werden – um den Raum zu spüren, in dem das Leben wirklich lebendig wird.
Ein Raum, in dem sich Nähe, Erinnerung und Erkenntnis nicht voneinander trennen lassen.
Ein Raum, in dem ich nicht das Bewusstsein bin – sondern geschehen darf
in einem Bewusstseinsfeld, das älter ist als mein Denken
und weiter als mein Wille.

So wird aus einem überfrachteten Begriff eine stille Geste des Hörens.
Ein Weg zurück zum Ursprung.
Ein Lauschen auf das, was sich zeigt – nicht, weil ich es suche, sondern weil es mich ruft.
Und vielleicht – ganz vielleicht – ist dieser Ruf nichts anderes
als der erste Atem, der nie geendet hat.

Wie sich ein Wort entkleidet – und zu einem stillen Raum wird

Es gibt Worte, die durch viele Münder wandern.
Durch Bücher, Lehren, Gesprächsrunden – und die dabei oft verlieren, was sie einst getragen hat.
„Bewusstsein“ ist eines davon.

Es klingt bedeutungsvoll – und doch bleibt es oft seltsam leer.
Ich habe es viele Jahre verwendet, weil ich glaubte, es beschreibe etwas Kostbares:
das, was den Menschen erkenntnisfähig und empfänglich macht.
Doch je mehr ich damit arbeitete, desto deutlicher wurde:
Das Wort trägt nicht mehr, was es sagen möchte.
Oder vielleicht: es trägt zu viel.

Bewusstsein wurde zum Zustand erklärt, zum Besitz, zum Entwicklungsziel.
Ein Begriff, der mehr verspricht, als er halten kann.
So begann ich, ihn zu wandeln.
Behutsam.
Wort für Wort.

Ich nahm ihm den Glanz, die Technik, die Wertung –
und ließ ihn zurückkehren in seinen Ursprung:
Ein Raum wo alles Leben stattfindet.
Ein Lauschen in der Stille.
Ein Spüren – das es mich atmet.

Kein Konzept.
Kein Eigentum.
Keine Methode.

Was mir dabei half, war der Atem.

Anfangs eine Technik – ein erster Zugang, um ihn überhaupt wahrzunehmen.
Um zu spüren, dass es mich atmet.
Doch mit der Zeit wurde aus der Übung ein Lauschen.
Aus dem stillen Begleiter ein stiller Lehrer – nicht weil er sich veränderte,
sondern weil ich mich ihm achtsam zuwenden durfte.

Der Atem wurde zur Bewegung, die mir zeigt, wie Geben und Empfangen sich berühren –
ohne sich zu beweisen.

Wenn ich einatme, empfange ich etwas, das nicht aus mir kommt.
Wenn ich ausatme, gebe ich zurück,
was nie nur mir gehörte.

In dieser schlichten Bewegung entsteht etwas, das dem nahekommt,
was ich früher Bewusstsein nannte – und heute lieber ein inneres Feld:

Ein Resonanzraum.
Ein Ursprung.
Ein Dazwischen, das trägt.

Ich glaube, dass jeder Mensch Zugang dazu hat.
Nicht, weil er bewusster wird – sondern weil er still wird.
Weil er sich berühren lässt von dem, was unterhalb der Sprache ruht.

Viele spirituelle und philosophische Traditionen haben davon gesprochen –
mit anderen Worten, mit anderen Bildern.
Aber alle deuten auf das Gleiche:
Ein Raum, in dem sich Leben nicht dadurch zeigt, dass es erklärt wird –
sondern dadurch, dass es gefühlt wird.

In einem dieser Bilder
wird erzählt, wie der Schöpfer dem geformten Körper den Odem einhaucht.
Zwischen dem göttlichen Ausatmen
und dem ersten menschlichen Einatmen
entsteht ein stiller Zwischenraum –
in ihm wird die lebendige Seele geboren.

Vielleicht ist genau dort der Ursprung dessen, was wir suchen.
Nicht als Zustand.
Nicht als Besitz.
Sondern als Gegenwart.

Vom Begriff zur Gegenwart

So ist dieser Wandel kein intellektueller Schritt.
Er ist eine Reifung.
Ein langsames Erwachen aus dem Glauben, etwas besitzen zu müssen,
um etwas zu sein.

Und ein leiser Schritt in den Raum,
in dem alles, was wesentlich ist,
bereits da ist.

Nicht als Gedanke.
Sondern als Nähe.
Nicht als Idee.
Sondern als Atem.