Beim Lernen mit meinem Zehner gab es einen Moment, der mich nicht mehr losgelassen hat.
Rav Laitman schrieb sinngemäß:
Solange der Mensch allein vom Verlangen zu empfangen bewegt wird, hat er keinen freien Willen.
Dieser Gedanke hat mich tief berührt. Er hat einen Punkt in mir angesprochen, der schon lange bereit war, genauer hinzusehen.
In meinem Leben habe ich oft darüber nachgedacht, ob es so etwas wie freien Willen gibt – nicht als Theorie, die in unser Wissen wandert, sondern als etwas, das man unmittelbar erleben kann.
Am ehesten habe ich es in der Atmung verstanden:
Es ist nicht der Wille, der frei ist, um zu atmen.
Frei ist der Raum, in dem ich beginnen kann, mich zu erinnern – dass es mich atmet und dass alles darin geschieht.
Alles, was ich bin, ist aus einem Verlangen entstanden – einem inneren Bewegtsein, das empfangen möchte: Wärme, Nähe, Nahrung, Anerkennung, Liebe, Sinn.
In der Sprache der Kabbala ist dieses Verlangen die Substanz des Geschöpfes – der Wille zu empfangen.
Ich sehe heute, wie dieses Verlangen mein ganzes Leben bestimmt hat.
Ich habe auf Menschen, Worte und Stimmungen reagiert, ohne es richtig wahrzunehmen.
Ich habe gesucht, ohne zu fragen.
Gegriffen, ohne zu spüren.
So bin ich oft Teil einer Bewegung geworden, die nicht aus mir kam.
Das Leben floss, und ich antwortete mit alten Mustern.
So sehr ich versucht habe, anders zu handeln, war ich doch meist mehr Reaktion als Ursprung.
Solange ich nur empfange, existiere ich, um zu überleben.
Leben im tieferen Sinn beginnt erst dort, wo Verbindung entsteht.
Mit der Zeit hat sich etwas verändert.
Mein Denken wurde stiller, mein Hören tiefer.
Es war kein lauter Durchbruch, sondern ein Innehalten – genährt durch die Arbeit mit dem Atem und die Begegnung in den Gruppen.
Mir wurde klar: Empfangen allein erfüllt nicht dauerhaft.
Doch die Vorstellung zu geben, schien noch schwieriger.
Was heißt es überhaupt, zu geben?
Und wie macht man das?
Wir kommen nicht einfach ins Geben, nur weil wir den Begriff kennen oder eine Ahnung davon haben.
Seine Tiefe ist oft verhüllt.
Der erste Eindruck vom Geben entsteht meist in nahen Beziehungen – mit Partnern, Familie, oder Menschen, die uns in unseren Mustern begegnen.
Und das erste allgemein anerkannte Verständnis sieht im Geben oft einen Ausgleich: Wer empfängt, soll auch geben, um ein Gleichgewicht herzustellen.
Aber das bleibt an der Oberfläche.
Wenn es tiefer geht, beginnt die Auseinandersetzung mit dem, was man empfangen hat.
Man sieht den eigenen Willen, was wir Egoismus nennen.
Man spürt den Scham, wenn man erkennt, wie sehr man im Nehmen lebt.
Dieser Moment ist nicht angenehm. Aber er öffnet eine neue Richtung.
Aus diesem Prozess entsteht ein Bild davon, wer ich bin und was ich in mir trage.
Das kann zu Leere und Orientierungslosigkeit führen.
Diese Leere auszuhalten, ist ein Schritt zu einem anderen Glauben.
Auch wenn mir Gott fern erscheint, spüre ich: Etwas durchdringt mich.
Dieses Etwas zeigt sich in Menschen, in Begegnungen, im Leben selbst – als Ausdruck eines fortwährenden schöpferischen Willens.
Jeder Mensch trägt diese Spur in sich, sichtbar in seinen Mustern und Handlungen.
Es liegt an mir, wie ich dem begegne.
Eine klare Haltung zur Verbindung kann Vorurteile durchdringen und ein neues Empfinden von Nähe entstehen lassen.
Vielleicht habe ich so verstanden: Die Freude zu empfangen kann zugleich ein Geben werden.
Wenn sich mir ein Mensch öffnet und seine Gedanken anvertraut – und ich Dankbarkeit empfinde – ist das vielleicht schon ein Geschmack von Geben.
Das nimmt jede Pflicht aus der Begegnung.
Es bleibt ein Erinnern an das, was Leben trägt.
Eigentlich hat der Atem mir das gezeigt.
Ein Ein- und Ausatmen.
Empfangen und Geben.
Kein Zustand, sondern ein stiller Raum zwischen den Bewegungen.
Dieser Raum ist nicht in einer zeitlichen Abfolge zu finden – nicht nach dem Einatmen und vor dem Ausatmen.
Er entsteht, wenn sich Ein- und Ausatmen durchdringen.
Dann wird Empfangen und Geben zu einem Vorgang.
In diesem Durchdringen öffnet sich ein Raum, der nicht gemacht werden kann, sondern sich zeigt, wenn ich in der Stille lausche und mich dem Atem zuwende.
Dort geschieht Gegenwart – nicht als Moment, sondern als fortwährende Entfaltung.
Mit diesem unverfügbaren Raum kommt ein anderer Begriff von Freiheit:
Nicht alles tun zu können, sondern nicht mehr allem folgen zu müssen.
Still werden.
Nicht sofort antworten.
Nicht alles wollen oder wissen.
Mein Leben beginnt dort, wo ich innehalte.
Wo ich nicht automatisch aus alten Mustern handle, sondern einen Moment Raum lasse für eine andere Möglichkeit.
Die Kabbalisten sagen: Es gibt keinen freien Willen, solange wir nur im Empfangen leben.
Doch wenn wir nach Ähnlichkeit mit dem Schöpfer streben, öffnet sich etwas.
Das Geben ist die Natur des Ursprungs.
Wenn mein Verlangen auf Verbindung gerichtet ist, entsteht ein stiller Dialog.
Ich spüre heute:
Denken kann wachsen,
Fühlen kann sich vertiefen,
Erkenntnisse können klarer werden – nicht, weil ich mehr weiß, sondern weil ich leiser werde.
Dann kann ich mich aus der Enge des Ichs in einen Raum bewegen, der mich trägt.
Für mich ist es der Raum des göttlichen Bewusstseins – nicht als Besitz, sondern als das, worin Leben geschieht.
Manche nennen es Achtsamkeit, andere Gebet.
Vielleicht ist es beides, vielleicht mehr.
In diesem Raum muss ich mich nicht beweisen.
Ich kann in der Stille lauschen und lernen.
Und in diesem Lauschen beginnt ein anderer Wille zu wirken – nicht gegen das Verlangen, sondern durch es hindurch.
Das könnte der erste Funke von Freiheit sein:
Nicht mehr fragen, was ich vom Leben will, sondern was das Leben von mir will.
Wenn ich mit jemandem spreche, merke ich, wie wichtig dieser Raum ist.
Ohne ihn sind Worte nur Reaktionen.
Mit ihm bekommen sie Gewicht.
Dann höre ich zu, bevor ich antworte.
Ich spreche, um zu verbinden, nicht um zu beweisen.
Dieser Raum macht es möglich, dass Worte nicht trennen, sondern verbinden.
Aus ihm heraus kann sogar Kritik ein Angebot werden, das angenommen werden kann, ohne Abwehr zu erzeugen.
Der Raum, in dem Worte tragen
Wenn ich mit jemandem im Gespräch bin, merke ich, wie sehr es auf diesen inneren Raum ankommt.
Ohne ihn sind Worte oft nur Reaktionen – schnell, ungefiltert, manchmal klug klingend, aber nicht getragen.
Mit diesem Raum verändert sich alles:
Die Worte haben Zeit, sich zu setzen, bevor sie ausgesprochen werden. Sie verlieren den Drang, zu beeindrucken oder zu überzeugen, und beginnen, eine Brücke zu schlagen.
Dieser Raum ist kein Ort der Leere, sondern eine Art inneres Fundament. Er gibt den Worten Gewicht, nicht durch Lautstärke, sondern durch Verankerung. Aus ihm heraus kann ich zuhören, ohne schon zu antworten. Ich kann sprechen, ohne zu verteidigen. Und wenn ich etwas mitteile, dann nicht, um mich zu behaupten, sondern um mich zu verbinden.
Vielleicht ist genau das der Grund, warum mir dieser Raum so wichtig geworden ist:
Er ist die Voraussetzung dafür, dass Worte ihre ursprüngliche Aufgabe erfüllen – nicht zu trennen, sondern zu verbinden.
In ihm entsteht eine Sprache, die mehr trägt als Information: eine Sprache, die Beziehung stiftet.
Und wenn Kritik, Lob oder eine Bitte aus diesem Raum kommen, dann geschieht etwas Entscheidendes – sie verlieren ihre Schärfe und gewinnen an Tiefe. Sie werden zu einem Angebot, das der andere annehmen kann, ohne sich verteidigen zu müssen.
Die Kritik am Nächsten
In meiner Arbeit mit Menschen habe ich oft gesehen, wie sensibel und kraftvoll Kritik wirken kann – in beide Richtungen.
Es gibt zwei wesentliche Erkenntnisse, die mir dabei wichtig geworden sind:
Zum einen hat jede Kritik, die ich an einem anderen äußere, auch mit mir zu tun.
Alles, was ich sehe und benenne, trägt Spuren meiner eigenen Gedanken, Prägungen und Grenzen.
In diesem Sinn ist jede Kritik ein Spiegel – ein Hinweis darauf, womit ich mich selbst noch auseinandersetzen kann.
Zum anderen hat jede Kritik auch eine unmittelbare Wirkung auf das Ego des anderen.
Ich kenne es von mir selbst: Wenn mich jemand kritisiert, fühlt sich etwas in mir angegriffen, berührt, vielleicht verletzt, fast unverzeihlich.
Dieses Ego ist nicht „falsch“ oder „überflüssig“.
Es ist ein Teil meiner Lebensgeschichte – es hat Erfahrungen gesammelt, Grenzen gesetzt, mich geschützt und geformt.
Es erfüllt seine Aufgabe gemäß seiner eigenen Art zu handeln.
Verstehe ich beides – den Spiegel, den Kritik mir bietet, und die Wirkung, die sie auf den anderen hat –, dann verändert sich mein Handeln.
Ich werde vorsichtiger, zurückhaltender, achtsamer.
Ich übe Kritik nicht, um zu korrigieren oder zu beweisen, sondern um zu verstehen, was in mir gesehen werden möchte.
So wird aus Kritik keine Waffe, sondern eine Form der inneren Arbeit.
Eine Einladung, bevor wir sprechen
Vielleicht lohnt es sich, bevor ein Wort den Weg nach außen findet, für einen Atemzug still zu werden.
Einen Moment lang den Raum zu spüren, aus dem es kommen wird.
Zu fragen, ob es aus Eile oder aus Verbindung spricht.
Ob es etwas hinzufügt oder nur etwas festhält.
Dieser Atemzug verändert mehr, als wir oft denken.
Er gibt uns Zeit, nicht nur den anderen, sondern auch uns selbst zu hören.
Er lässt uns Worte wählen, die tragen können – nicht, weil sie perfekt sind, sondern weil sie aus einem Raum kommen, in dem wir verbunden sind.
Vielleicht ist das einer der stillsten und zugleich stärksten Schritte, die wir im Miteinander gehen können:
Nicht sofort zu reden, um recht zu haben –
sondern zu warten, bis das Wort reif genug ist, um Brücken zu bauen.
Und manchmal, in dieser kurzen Stille, zeigt sich etwas, das größer ist als wir selbst –
und das uns erinnert, warum wir überhaupt miteinander sprechen.